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„Ja, in sich spürte sie ein vollkommenes Tier. Die Vorstellung, dieses Tier eines Tages loszulassen, stieß sie ab. Vielleicht aus Angst vor einem Mangel an Ästhetik. Oder fürchtete sie eine Offenbarung … Nein, nein, sagte sie sich, du darfst keine Angst davor haben, etwas zu erschaffen. Tief innen stieß das Tier sie vielleicht ab, weil sie immer noch den Wunsch verspürte, zu gefallen und von jemandem geliebt zu werden. […]. Einmal gedacht, waren ihre Gedanken wie Statuen im Garten, sie sah sie an, während sie durch den Garten schritt […].“ 1
Diese Worte stammen aus Nahe dem wilden Herzen, einem Stream-of-Consciousness-Roman, der jungen Schriftstellerin Clarice Lispector. Sie veröffentlichte ihn 1943 in Brasilien, wohin ihre Familie aus einer vom Krieg zerrütteten Region im Westen der Ukraine geflohen war. Während Lispectors Erzählstimme weithin als seltsam und ihre Prosa als fremdartig rezipiert wurde, war sie doch tatsächlich ebenso realistisch wie surrealistisch. Sie besaß die seltene Fähigkeit, Erfahrungen in Lebewesen zu verwandeln und unbelebte Objekte in Figuren, und dies in einem dichten, experimentellen Feld, in dem die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren erloschen. Diese unreine, somatische und wilde Vision, so schlug Lispector vor, „bestand darin, das Symbol der Dinge in den Dingen selbst zu erhaschen“ 3, sodass Wörter Dinge nicht mehr beschrieben, sondern zu Dingen mutierten. Anija Seedlers Werk tut mit Bildern und visuellen Symbolen, was Lispectors Geschichten mit Wörtern tun: Es verliert sich in Mimesis, Krypsis, Maskerade, Polymorphismus und Konvergenz. In den jüngsten großformatigen Gemälden wie Apocalyptic Flowers (2023–24) und Theatre, Garden, Bestiary (2023) vereinigen sich Tusche und Pigmente auf Rohleinen in unterschiedlichen Neonpinktönen, Arsenik- und unirdischem Mineralgrün, Erdbraun und elektrischem Blau so aggressiv-schön, wie sie unheimlich sind in ihrer Symbolik und ambivalenten Formlosigkeit.
Wild Bouquet (2023) bringt den Augen eine florale Gabe dar, doch die organischen Formen des Werks schwärmen bald aus und die Blumen verwandeln sich in spähende, plappernde Monster und teuflische Boten. Pflanzenleben transmutiert zu Tieren – ein Elefant oder ein Mammut oder vielleicht ein Ameisenbär scheint hervorzuspringen, nur um dann wieder zurückzuschlüpfen in den Hintergrund einer abstrakten alchemistischen Sättigung. Diese Arbeiten erzwingen eine Zusammenkunft in der von der Künstlerin sorgfältig erschaffenen Kartografie mit einer unkontrollierten Zufallsblutung: Auf der Oberfläche des Gewebes überlagern Bleichmitteltropfen und willkürliche Materialverschiebungen Andeutungen von Figuren und Gesichtern surrealistischer Dramen, ganz so, als sei ihre Gestaltwandlung auf magische Weise aufgehalten worden.
Seit Jahrzehnten erschafft Seedler diese grafischen Arbeiten, Künstlerbücher und größeren Gemälde, welche, ähnlich den Bühnenbildern, Requisiten und Kostümen, mit denen sie im Dialog stehen, einen liminalen, einen im Dazwischen liegenden Schwellenraum bewohnen. Es sind gemalte Theaterstücke, filmische Tuschen, grafische Gestalten cineastischer Soundtracks. Ihre Tuschezeichnungen, oft auf handgeschöpftem Papier gefertigt, geraten stofflicher als Drucke es je sein können. Überall in ihrem Atelier aufeinandergeschichtet, wirken sie wie instabile und zerklüftete Türme: eine Architektur des getuschten Imaginären. Aus Mythen, Naturgeschichte und Begehrensökologien haben sich Seedlers grafische Arbeiten, Gemälde, Installationen und Künstlerbücher ihre eigene Bühnenwelt erschaffen – ein Karneval der Sehnsucht, der Enttäuschung und des Feierns, der hinterfragt, was es bedeutet, Tier zu sein und lebendig. Tatsächlich hat Seedler Tausende kleiner Tuschezeichnungen angefertigt, visuellen Drehbüchern ähnlich: Fragmente eines anhaltenden Stroms dramatischer Handlungen, zerbrochener Dialoge, chorischer Sequenzen, durch die gestische Strichführung der Tusche auf einzelnen Seiten eingefangene Momente. Sie sind nicht als autonome Kunstwerke oder Vorbereitungsmaterial für monumentale Inszenierungen gedacht, sondern als Teil eines Universums aus brüchigen Narrativen und karnevalesken Darbietungen. Wir begegnen Kriegern, Menschenechsen, auf Maultieren reitenden Riesen, kaninchenköpfigen Figuren in Grasröcken und einer Frau, die geborgen ist in einer sich um sie herum faltenden Landschaft. In Memoria Musculare (2024) ringen oder liebkosen rosa- und ockerfarbene, zwillingsartige Körper, die sich gegenseitig in einer erstickenden Umklammerung stützen. Diese grafischen Arbeiten und Gemälde stellen spannungsgeladene, opulente, unstete, erregte und bedrohliche Tier-Mensch-Dramen dar, durchdrungen von Farben der Liebe und der Apokalypse, dunkler Zeiten und der Freude. Seedlers gestische, malerische, gleichzeitig hartnäckig grafische Praxis wurzelt im Theater – in seinen dramatischen Rekonstruktionen, Wiederholungen und Re-Präsentationen und seinen kollektiven Chören, sanften Monologen und zügellosen Multi-Media-Attacken. Sie wurde unter anderem bei Volker Pfüller ausgebildet, er selbst ist ein rastloser Produzent von Zeichnungen und Entwürfen für Bühne und Kostüm. Pfüllers Theaterplakate, Illustrationen und Kostümentwürfe sind von der dialektischen Dramatik Bertolt Brechts oder dem Expressionismus der Neuen Sachlichkeit von Marieluise Fleißer geprägt. Sie bilden ein papierenes Pantheon, das das Theaterleben in Berlin, Karl-Marx-Stadt und Leipzig von den 1970er bis in die 1990er Jahre belebte. Dramatische Farben, surrealistische und absurde Karikaturen, gestische Linolschnitt- und Lithografielinien, die auf dadaistische Avantgarden verweisen, verbinden Pfüllers und Seedlers Papierwelten.
Seedler jedoch hat sich dieses Erbe anverwandelt und es bildet nur eine von vielen imaginären und kurzlebigen Kulissen, vor denen ihre symbolischen Formen und nomadischen Protagonisten umherstreifen. Ihre jüngsten Ausflüge in eine erweiterte installative Praxis, wie zum Beispiel Wind Opera 4 (2023), brachten organische Fundstücke, Drucke und Textilien zusammen, beleuchteten ihre komplexe Auseinandersetzung mit einem kollektiven Theater des Absurden und illustrierten ganz materiell die transformative Dramaturgie ihrer tintenfarbenen Welt. Die Ausstellung wurde auch als Buch publiziert. Seine zarte, nachgiebige, skulpturale Objekthaftigkeit spiegelt die Formen und die Grammatik der Installation wider.
Mythologie, die Moderne und alte indigene Beziehungen zu den natürlichen und ökologischen Welten sind zentral für dieses Theater. In Werken wie Lubang (2024) sind Tierkörper klarer umrissen, wenn beispielsweise eine Schicht nasser Tusche auf Leinen ein Paar affenähnlicher Kreaturen erkennen lässt. Abstraktion und Markierung jedoch korrumpieren diese Sujets, wenn fahrige, grafische Kobaltmarkierungen die Gesichter zensieren oder unkenntlich machen und so krasse Anti-Porträts schaffen. Der Titel des Werks verweist auf eine Insel in einem philippinischen Archipel. Vor der gewaltsamen Kolonisierung durch die Spanier war hier das indigene Volk der Tagalog beheimatet. Das Werk ist durchdrungen von der Mythologie der Tagalog, die – entgegen der Evolutionstheorie – glaubten, die ersten Affen seien aus Menschen entstanden. Wie viele der tierisch-menschlichen Protagonisten Anija Seedlers ist der karnevaleske Zug der Figuren, die sie abbildet, aber auch verunreinigt durch die Gewalt rassistischen Kapitals, modernistischer Plünderungen des sogenannten „Primitiven“ und einer sich anbahnenden ökologischen Katastrophe. Überall in Seedlers Werken spielen vergleichbare Kämpfe und Widersprüche – wiedergegeben auf Papier und Leinen – Formlosigkeit gegen Form aus, wird Abstraktion in Figuration gegossen, Natur in Mensch und Bild-Arkadien, Ursprungsmythen und Gemeinschaft werden verschwistert mit kolonialer Gewalt, ökologischen Zusammenbrüchen und Vernichtung.
1 Lispector, Nahe dem wilden Herzen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray- Güde Mertin, überarbeitet von Corinna Santa Cruz. Frankfurt am Main: Schöffing &Co2013,S.17,19 2 Ebd.,S.229 3 Ebd.,S.55 4 WindOpera.HeikeHennig& Anija Seedler im Dialog mit dem Wind, Stralsund / Amsterdam: weiw Verlag 2023
Sarah Edith James (*1978) ist Professorin für Visuelle Kultur an der Manchester School of Art, Manchester Metropolitan University. Sie lebt in Liverpool.
Übersetzung aus dem Englischen: Sudabeh Mohafez / Astrid Köhler
“Yes, she felt a perfect animal inside her. The thought of one day setting this animal loose disgusted her. Perhaps for fear of lack of aesthetic. Or dreading a revelation… No, no, she repeated, you mustn’t be afraid to create. Deep down the animal may have disgusted her because she still had in her a desire to please and to be loved by someone […] Her thoughts were, once erected, garden statues and she looked at them as she followed her path through the garden…” 1
These words belong to the stream-of-consciousness novel Near to the Wild Heart, published in 1943 by the young writer Clarice Lispector in Brazil – with her family had fled from a war-torn western region of Ukraine. Written in what was popularly perceived as a strange voice with a foreignness of prose, Lispector’s storytelling was as realist as it was surrealist. At its core was a rare ability to transform experience into creatures and inanimate objects into characters, in a dense experiential field where the differences between people and animals ceased. This messy, somatic and wild vision, Lispector proposed “consisted of surprising the symbol of the thing in the thing itself,” 3 so that words no longer described things, but they mutated into them. Anija Seedler’s work does to imagery and visual symbols what Lispector’s stories do to words: It loses itself in mimesis, crypsis, masquerade, polymorphism and convergence. In recent large-scale paintings such as Apocalyptic Flowers, 2023–24, and Theatre, Garden, Bestiary, 2023, ink and pigment cast in neon pinks, arsenic and unworldly mineral greens, earth browns and electric blues combine on raw linen; as aggressively beautiful as they are sinister in their symbolism and ambivalent formlessness. Wild Bouquet, 2023, proposes a floral offering to the eyes, but the piece’s organic forms soon swarm, flowers morphing into peering chattering monsters and satanic messengers. Plant life transmutates into fauna – an elephant, or a mammoth, or maybe an anteater appears to protrude then slip back into a background of abstract alchemic saturation. These works force an encounter between the artist’s careful cartography and an uncontrolled chance bleeding, where bleaching drips and random material slippages overlap suggestions of figures and faces in surrealist dramas in the surface of the fabric – set with acrylic varnish – as if their shapeshifting has been magically arrested.
For decades Seedler has created graphic works, artist-books and larger paintings which, like the set designs, props and costume designs they dialogue with, occupy an interstitial space of thresholds. They are painted plays; filmic inks; the graphic form of cinematic soundtracks. Her ink drawings, often produced on handmade paper, become more material than prints can hope to be. Stacked around her studio they appear like precarious and raggedy-edged towers: an architecture of inked imaginary. Her graphic works, paintings, installations and artists books have created their own theatrical universe of myth, natural history, ecologies of desire – a carnival of longing, frustration and celebration that interrogates what it means to be animal and alive. Indeed, Seedler has produced thousands of smaller ink drawings, akin to visual scripts, fragments of an ongoing stream of dramatic plots, broken dialogues, choral sequences; moments arrested in ink’s gestural mark-making on individual pages. These are not conceived as autonomous works of art or preparatory material for monumental productions, but as part of a universe of fractured narratives and carnivalesque performances. We meet warriors, human-lizards, giants mounted on mules, rabbit-headed figures in grass skirts and a woman cupped by a landscape that folds around her. In Memoria Musculare, 2024, pink and ochre-inked twinned bodies wrestle or caress, propping each other up in a suffocating hold. These graphic works and paintings
picture tense, opulent, precarious, charged and menacing animal-human dramas coloured by love and apocalypse, dark times and joy.
Seedler’s gestural, painterly yet stubbornly graphic practice is grounded in the theatre – in its dramatic reconstructions, reiterations and re-presentations and its collective choruses, gentle monologues and riotous multimedia assaults. She studied, among others under Volker Pfüller, himself a restlessly prolific producer of drawings and designs for stage and costume. Pfüller’s theatre posters, illustrations and costume designs were coloured by the dialectical drama of Bertolt Brecht or the Neue Sachlichkeit expressionism of Marieluise Fleißer and the former provide a paper-based pantheon animating the theatrical lives of Berlin, Karl-Marx-Stadt and Leipzig from the 1970s to the 90s. Dramatic colours, surrealist and absurd caricatures, gestural linocut and lithograph lines nodding to surrealist and Dadaist avantgardes conjoin Pfüller and Seedler’s paper worlds. But Seedler makes this inheritance her own, and it is only one of many imaginary and momentary backdrops before which her symbolic forms and nomadic protagonists roam. Her recent adventures into an expanded installation-based practice, such as Wind Opera, 4 2023, for example, brought together organic found objects, prints and textiles, illuminating her complex engagement with a collective theatre of the absurd and making material her inky world’s transformative dramaturgy. The exhibition was also realised as a book, whose delicate sagging sculptural objecthood mirrored the forms and grammar of the installation.
Mythology, modernity and ancient and indigenous relations to the natural and ecological worlds are central to this theatre. In works such as Lubang, 2024, animal bodies are more clearly delineated, as layered wet Indian ink on linen reveals a pair of monkey-like creatures. But abstraction and mark-making corrupt these subjects as agitated cobalt graphic markings censor or redact the faces, creating stark anti-portraits. The work’s title is a reference to one island in an archipelago situated in the Philippines, and home to the indigenous Tagalog people before their violent colonisation by the Spanish. The work is pregnant with the mythology of the Tagalog, who believed – contraevolutionary theory – that the first monkeys had been transformed from people. But like many of Seedler’s animal-human protagonists, the carnivalesque march of characters she pictures is also tainted with the violence of racial capital, the modernist pillage of the so-called ‘primitive’ and an ecological planetary disaster unfolding. Throughout Seedler’s works similar battles and thick contradictions – played out on paper and linen – pitch formlessness against form, embed abstraction in figuration, morph nature and human, and picture arcadia, origin myths and community as twinned with colonial violence, ecological collapse and destruction.
1 From Joana’s Day, Near to the Wild Heart by Clarice Lispector, translation by Alison Entrekin, edited by Benjamin Moser, New Directions Book, New York, 2012: 9, 10, 11. 2 Ibid., 167. 3 Ibid., xi. 4 Wind Opera. Heike Hennig & Anija Seedler in Dialog with the wind, weiw publishers, Stralsund Amsterdam, 2023
Sarah Edith James (*1978) is Professor of Visual Culture at Manchester School of Art, Manchester Metropolitan University. She lives in Liverpool.
If you are interested in this artwork, please send an email to info@anija-seedler.de