STEP OUT FROM BEHIND THAT TREE! – Text – DT / EN

Frank Motz - for Monography Imperfektes Kino/ Imperfect Cinema

2014

Herr Röhniß hat es versucht – im Zeichenunterricht an der Leipziger Ho-Chi-Minh-Oberschule. Der berühmte Maler Peter Schnürpel hat es versucht – im Zeichenkurs am Altenburger Lindenau-Museum: Mir das Zeichnen beizubringen, war schier unlösbar. Blieb das Schreiben. Ich schaue aus dem Fenster des “Writers Cottage” im australischen Bundanon auf die grabenden und grunzenden Wombats in ländlicher Wald- und Wiesenidylle. Ein ehemaliger Bewohner jener Textschmiede hat auf den Schreibtisch vor mir hineingekrakelt: “Step out from behind that tree!” Zweifelsohne eine Aufforderung: Tritt hervor! Lass dich blicken! Trau dich! Fang endlich zu schreiben an! Hier also einige Worte über jene Künstlerin, der dieser Katalog gewidmet ist und die das Zeichnen fraglos meisterhaft beherrscht: Anija Seedler.
Schon immer wollte sie malen und zeichnen. Als sie vier Jahre alt war, konnte man sie für Stunden irgendwo hinsetzen bzw. “abstellen” – den Stift immer dabei, fing sie prompt zu malen an. Sehr praktisch für die Eltern, für die sie das “Drambuch” war. Das ist erzgebirgisch. Ein Traum- und Lieblingsbuch, winzig und zerfleddert und ebenso von Kindesauf stets zur Hand, war für Anija das mit Grimms Märchen gefüllte, schwarz-weiß illustriert, made in GDR, mit den verdrehten Geschichten, die ihr der Großvater vorlas.
Wenn sie von ihren “inneren Bildern” erzählt, die “immer filmischer”, “beinahe wie inszenierte Fotografien” wirken würden, von ihrer Suche nach dem “Cinematografischen, der Bewegung des Gezeichneten also”, nach einer “Optik des abgedunkelten Raumes”, erinnert mich das an eine vor zwanzig Jahren am selben Ort wie nun Anija Seedlers Katalogwerke ausgestellte inszenierte Fotografie aus Cindy Shermans Reihe der “Disaster and Fairy Tales”: ein Männlein steht im Walde, in rot-weiß-kariertem Kleid, mit Hasenzähnchen, etwas unbeholfen, gestützt an einen Baum, eine Erscheinung, die Vergangenes oder Künftiges andeutet, nahelegt, aus dem Raum der Mutmaßung jedoch nie hervortritt. War das was hinter dem Baum, als ich aus dem Fenster blickte? Step out from behind that tree!
“Fertige” ihrer gezeichneten Inszenierungen prüft Anija Seedler auf deren “Spielbarkeit” und “passt auf”, das ihr “keine Geschichten passieren, denn oft geht durch eine Geschichte die Bewegung im Bild verloren.” Die teils collagierten Zeichnungen aus Pigmenttusche und Acryllack sind keine Skizzen, keine Gedankenstützen, die später in Malerei umschlagen, sondern als ausgewogene Fragmente autarker Baustein eines eigenständigen Ganzen. Als singulär herausgearbeitete Aussagen wiederum wurden sie nicht ausformuliert, sondern unentschieden belassen, im Dazwischen, Imperfekten, mit offenem Vor- und Nachleben der gezeichneten Situation, bestenfalls Auslöser eines Kopfkinos im Auge des Betrachters. Uminterpretierte Referenzen aus Literatur und Theater – ebenso wie Erinerungsmomente und Streiflichter aus der Filmwelt – mögen dabei, beginnend mit den Brüdern Grimm und Anija Seedlers “Vorleben”, profunde Inspirationsquelle gewesen sein.
Anija Seedler ist eine Expertin des inszenierten Körpers (als Gewandmeisterin und Kostümbildnerin), des inszenierten Raumes (als Theaterregisseurin und Bühnenbildnerin) und des inszenierten Wortes (als Illustratorin und Kinderbuchgestalterin). Obschon ihre Papierarbeiten auf der Gratwanderung zwischen darstellender und bildender Kunst entstanden, löst sie sich als freie Künstlerin mit wenigen, sicheren Strichen, Zügen und geschwungenen Linien, die sie seit ihrer Zeiten im Süden “nicht als Kitsch, sondern Bewegung” begreift, aus der Welt der Vorlagen, bringt mit scheinbarer Leichtigkeit das Wesentliche eines Geschöpfs (ob Mensch, Tier oder Mischwesen), einer Situation, einer Gefühlslage präzise auf’s Blatt.
Worauf mag der Fokus eines Kunstkataloges nebst angedockter Ausstellung liegen, wenn beide unseren Blick auf ein “imperfektes Kino” lenken? “Por un cine imperfecto” (1969), ein programmatischer Entwurf des kubanischen Regisseurs Julio Garcia Espinosa (geb. 1926) zur zivilisatorischen Kraft des Kinos für den revolutionären Fortschritt des Volkes, wird getragen von der These, Kino helfe dem Publikum, die Welt als veränderbar zu begreifen, in deren Strukturen und Verhältnisse man intervenieren könne, wenn die Arbeit der Regisseure nicht auf die ästhetische Perfektionierung filmischer Produktion, sondern die Darstellung realer Probleme, ihre Entstehung und Analyse ausgerichtet sei, damit der Betrachter selbst deren Beilegung und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen in Angriff nehmen möge.
In die Strukturen, Handlung und Realität von Seedlers “imperfektem Kino”, das sich wie der Film aus Bewegung, Spannung und Licht speist, möge der Betrachter ebenso eingreifen. Unvollendetes, inhaltlich und technisch Fehlerhaftes (nachdem die Künstlerin akribisch sucht, um es zu verfeinern), Fragmentarisches wie auch Transparenzen, Überzeichnungen und Bewegungsunschärfen mögen dabei Ansporn sein, das Absurde im Alltäglichen, das Alltägliche im Absurden zu entdecken. Nur Anija Seedler weiß, inwieweit die zeitlich nahezu ausgewogene persönliche Erfahrung zweier politischer Systeme in ihren Lebensdeutungen für inhaltliche Anregung, für Skepsis und Kritik, aber auch Offenheit und Aufgeschlossenheit sorgten und dafür, ihr künstlerisches Interesse an Veränderung und Verwandlung, am Bruchstückhaften und am Gescheiterten fortwährend zu prägen, aufzugreifen und offenzulegen.
Abenddämmerung, immer noch Fensterblick, die Stunde der Kängurus, sie treten hinter Buschland, Wald und Bäumen hervor, die Singzikaden machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Hier malte einst Arthur Boyd, er schenkte seinen Besitz “to the people of Australia”, hier säße ich nicht ohne ihn, in Gedanken bei Anija Seedler. Mich erobern Feierlichkeit, Geheimnis und Sehnsucht nach künstlerischer Tat. Von hier aus betrete ich noch einmal – imaginär – Anija Seedlers großzügiges, lichtdurchflutetes Atelier in der Leipziger Baumwollspinnerei. Wie es wohl wäre, wenn man selbst die Meisterschaft künstlerischer Schöpfung in sich trüge, um damit den Kontakt zur Welt zu pflegen?

Mr. Röhniß tried to do it – in lessons at the Ho-Chi-Minh-School in Leipzig. The famous painter Peter Schnürpel tried to do it – in a course at the Lindenau Museum in Altenburg. But teaching me to draw was just about impossible. Writing remained. From the “Writers Cottage” of the Australian Bundanon, I look out the window at the digging and grunting wombats in the rural idyll of forest and meadow. On the desk in front of me, a former inhabitant of this forge for texts has scrawled: “Step out from behind that tree!” Undoubtedly a challenge: Come out! Show yourself! Go for it! Start writing! Here then, some words about the artist to whom this catalogue is dedicated and who, without question, has an expert mastery of drawing: Anija Seedler.
She always wanted to paint and draw. When she was four years old, one could set her down or “park” her somewhere for hours – pencils always at her side, she’d promptly start to paint. Very practical for her parents, to whom she was the “Drambuch”, an expression from the Erzgebirge meaning dreamer, literally dream book – a book for dreams and favorite things, tiny and tattered and from childhood on always at hand. For Anija it was filled with Grimm’s fairy tales, illustrated in black-and-white, made in GDR, with the twisted stories that her grandfather read to her.
When she talks about her “internal pictures” that function “more and more cinematically”, “nearly like staged photographs”, about her search for the “cinematographic, that is, the movement of the drawn”, or for an “optics of the darkened space”, it reminds me of a staged photograph from Cindy Sherman’s series of “Disaster and Fairy Tales”, exhibited twenty years ago in the same place as Anija Seedler’s works published in this catalog are now: a little man stands in the woods in a red and white checkered robe. Buck toothed, a little bit awkward, supported by a tree, he is an apparition indicating, suggesting past or future, but never coming out from the realm of speculation. Is this what was behind the tree when I looked out the window? Step out from behind that tree!
When she’s finished with one of her drawn scenarios, Anija Seedler examines them for their “playability” and “makes sure” that “no stories are taking place, because a narrative in the image often causes the movement to be lost.” The partly collaged drawings from pigment ink and acrylic paint are not sketches, not aids to memory that later turn into paintings, but rather balanced fragments of autonomous building blocks of an independent whole. They are, on the other hand, not formulated as singular statements presented in detail, but rather are left undecided, in-between, imperfect. The situation portrayed has an open past and afterlife, is, ideally, a trigger for the viewer’s cinema of the mind. Reinterpreted references from literature and theater – as well as glimpses of memory and flashes of light from the world of film – may have been, beginning with the Brothers Grimm and Anija Seedler’s “past life”, profound sources of inspiration.
Anija Seedler is an expert on the staged body (as wardrobe supervisor and costume designer), the staged space (as theatrical director and stage designer) and the staged word (as illustrator and children’s book maker). Although her works on paper walk the tightrope between performing and visual art, as a fine artist she frees herself from the world of the prescribed with a few, sure strokes, streaks and curved lines. Since her time in the south, she understands these “not as kitsch, but movement” and brings with seeming ease the essentials of a creature (whether person, animal or chimera), a situation or an emotional state neatly to the page.
Where would the focus of an art catalog connected to an exhibition lie, if both direct our gaze at an “imperfect cinema”? “Por un cine imperfect” (1969), a programmatic concept of the Cuban director Julio Garcia Espinosa (born in 1926) on the civilizing strength of cinema for the revolutionary progress of the people, is built on the thesis that cinema helps the audience to understand the world as changeable, as one in whose structures and relations one can intervene. This, if the work of the director is aimed not at the aesthetic fine-tuning of cinematic production, but at the representation of real problems and geared to their origin and analysis, so that the viewer himself may tackle their reconciliation and draw conclusions from it.
Likewise, the viewer may intervene in the structures, action and reality of Seedler’s “imperfect cinema”, which, like film, feeds itself from movement, tension and light. The incomplete, the conceptually and technically flawed (after which the artist meticulously searches in order to refine it), the fragmentary, as well as transparencies, overdrawings and blurred movements may be a stimulus to discover the absurd in the everyday, the everyday in the absurd. Only Anija Seedler knows what her nearly equally long personal experiences of two political systems has offered for conceptual motivation, for skepticism and criticalness, but also openness and open-mindedness in her interpretations of life. Only she knows to what extent it continues to shape her artistic interest in taking up and revealing change and transformation, the fragmentary and the failed.
Dusk. Still the view from the window. The hour of the kangaroos. They come out from behind brush, woods and trees. The cicadas make an ear-deafening noise. Arthur Boyd painted here once. He gave his possession “to the people of Australia”. Without him I would not be sitting here in thought about Anija Seedler. Solemnity, mystery and longing for artistic action seize me. From here I enter once again – through imagination – Anija Seedler’s generous, light-flooded studio at the Leipzig Cotton Spinning Mill. What would be it like to carry in oneself the mastery of artistic creation to maintain contact with the world?

Translation Monica Sheets

Series:

2014

IMPERFEKTES KINO

Exhibitions:

2014

IMPERFEKTES KINO – Solo

Projects:

2014

FINAL

2014

TRICK OR TREAT

2014

BACKSTAGE

2014

MOVE

Collections:

DRESDEN STATE ART COLLECTIONS, SKD

Painting & Drawing:

2014

SORELLE

2013

WILDER

2012

TOURISTEN

2011

PROTECTORS

2011

MÄRCHEN

2011

WARZENSCHWEIN IM FRUCHTBETT

2010

BASTARD

Request: STEP OUT FROM BEHIND THAT TREE! – Text – DT / EN

If you are interested in this artwork, please send an email to info@anija-seedler.de