Geschichten, die lückenlos vom Anfang bis zum Ende erzählt werden, sind uns zu Fiktionen geworden. Wir misstrauen der Linearität, die eins auf das andere folgen lässt, um schlüssige Bilder zu schaffen. Wie aber lässt sich das Wesen eines jeden von uns anders als durch Geschichten ergründen? Wie ist der heutige Mensch erzählbar?
Und wie stellt sich dabei das künstlerische Verhältnis von Wirklichkeits- und Symbolbezug dar? Anija Seedler antwortet auf solche Fragen mit gezeichneten Momenterzählungen. Mit roter Tusche zeichnet sie Figuren und Gesten in Alltagswelten. Bis auf vereinzelte Andeutungen sind sie dabei ihren konkreten Räumen enthoben. Serien von Fragmenten entstehen auf diese Weise: erzählte Momente, Bruchteile von Zeit, nie jedoch ganze Geschichten. (Die abgeschlossenen Dinge sind am Ende angekommen.) Momente werden aus dem vermeintlich kohärenten Ganzen herausgenommen, um sie genauer anzusehen. An den Geschichten interessiert die Künstlerin ein bestimmter Ausschnitt. Der serielle Charakter von Anija Seedlers Zeichnungen dient dabei als Anordnung, als experimentelle Grundlage, die es der Künstlerin und den Betrachtern ihrer Bilder erlaubt, die Wahrnehmung zu fokussieren und in dem Wieder und Wieder der gleichen Aufgabe den Kern der Vorgänge systematisch zu beobachten, zu erfassen und gleichzeitig das eigene Tun zu befragen. Seedler sucht die Störungen und Irritationen. Augen, sprichwörtlich als Spiegelbilder der Seele bezeichnet, sind in vielen ihrer Zeichnungen und Malereien collagierte Aufbauten aus runden farbigen Papieren (Projektion, Puppet Player). Diese stumpf leuchtenden Scheibenaugen — Papier auf Papier auf Papier — werden herausgehoben, der Blick in ihre Tiefe wird umgekehrt. Ähnliche zartgrüne Blasen tragen humorvollerweise auch die drei Damen in Chewing Gum mitten im Gesicht. Der Aktivist mit rauchendem Gewehr im Arm wurde gar zu seiner eigenen Zielscheibe. Oft breiten sich dunkle Farblachen aus, verdecken Gesichter, verhängen sich zwischen Menschen (Blind Date), über Köpfen (Pirouette), wachsen unter Füßen in die Höhe (Ausflügler) oder werden selbst zu schönem Getier (Leda) oder Katzengeschöpf (Nymphe). Die Materialität der Ansammlungen gehorcht spezifischen physikalischen Fließgeschwindigkeiten und verfügt über eine ausgesprochene Eigenständigkeit, mit der sie sich auf dem Papier eher ablegt als in ihm zu versinken. Mit gelassener Selbstverständlichkeit verdecken die Verdunkelungen Gesehenes, Unbekanntes, Erfundenes und nie Gedachtes, dabei schärfen sie die Sinne der Betrachter und spielen mit den Konstruktionen der Prozesse — seien diese nun im Vorder- oder Untergrund wirksam: in Psyche, Kunst oder Intellekt. Kippsituationen und mehrdeutige Zustände sind ein häufiges motivisches Element. Was in einem Augenblick ist, könnte ebenso anders sein. Die Umarmung — ist sie auch eine Verschlingung? Ist der Wilde einer, der sich zeigt oder der seinen Kopf einzieht und sich verbirgt? Ist Monsterliebe eine Selbstbetrachtung (die der Frau, die des Tieres oder die des Betrachters)? Geradezu auf klassische Weise spielen auch die Torsi in Arabeske, Without und Intuition auf Abwesendes an und evozieren die Lebendigkeit dessen, was fehlt. Anders als die lichten, kleinen Arbeiten beziehen die großformatigen Malereien ihre Kraft aus den kompakten Verdichtungen des Wesentlichen. Die vielen Übermalungsschichten lassen Untergründe durchscheinen, fördern Spuren zutage, lassen Teile erkennen oder decken sie zu. Aber es gibt nicht nur den forschenden Blick in die Tiefe der Bilder hinein, um die Präsenz dieser Zeitgenossen zu ergründen, sondern die Bilder treten uns auch regelrecht entgegen. Aus dunklem Untergrund arbeitet sich Ara nach vorne heraus, über grüne Farben bis zum hell aufliegenden Weiß. Clara scheint uns wie eine, die nie jemals eine Haut abgelegt hat, eine legt sich durchscheinend über die andere, alle bleiben, die jeweils äußerste ist es, die wir berühren können. In Zwitschermaschine begegnen wir vielleicht einem Ebenbild. Der Polarbär weiß, dass er betrachtet wird, in seiner bewegten Flüchtigkeit hält er für einen Moment inne und blickt uns an. Anija Seedler erforscht solche Momenterzählungen, sie verhüllt und erfindet in ihren Arbeiten — sowohl in der kleinen, transparenten wie in der großen, dichten Form.
Und das Erforschen solcher Momente gilt nicht nur für den künstlerischen Prozess des Schaffens, sondern auch für den des Betrachtens.
Illustrated Stories of Moments
Stories that are told without interruption from beginning to end have become fictions to us. We mistrust the linearity that allows one thing to follow another to create coherent images. But how can we fathom the essence of someone, other than through stories? How can a person today be narrated? And how does the artistic relationship of real and symbolic present itself in the process? Anija Seedler answers such questions with illustrated stories of moments. With red ink she draws figures and gestures from everyday worlds. In this process, they are, except for isolated indicators, displaced from their concrete spaces. In this way, series of fragments come into being: recounted moments, fractions of time, never, though, whole stories. (The completed things are at the end.) Moments are taken out of the putatively coherent whole in order to examine them more closely. The artist is interested in a certain detail of the story. The serial character of Anija Seedler’s drawings serves as a form of classification, as an experimental basis that allows the artist and the viewers of her pictures to focus on perception, and in repetition of the same task to systematically observe the core of the processes, to comprehend and at the same time to question one’s own actions. Seedler looks for the disturbances and confusions. In many of her drawings and paintings, eyes are collaged superstructures from round, colored papers (Projektion, Puppet Player). These dully shining disc-eyes – paper on paper on paper – are lifted out; the gaze into their depth becomes reversed. Similarly, in a humorous way, the three ladies in Chewing Gum carry delicate green bubbles in the middle of their faces. The Aktivist with smoking gun in hand becomes his own target. Often dark pools of color spread out, cover faces, impose themselves between people (Blind Date), over heads (Pirouette), under feet, growing upwards (Ausflügler) or even become beautiful animals (Leda) or fantastic creatures (Reigen). The materiality of the accretions obeys specific physical flow rates and has a distinct independence with which it lays itself down on the paper rather than sinking into it. The shrouds cover with calm naturalness the seen, the unknown, the invented and the never thought of. In the process they sharpen the perception of the viewer and play with the construction of the processes – be these active in foreground or background (in psyche, art or intellect). Tipping points and ambiguous situations are a frequent motif. What is at one moment, could just as well be something different. The Umarmung – is it also an entanglement? Is the Wilde someone who shows himself or who ducks his head and hides? Is Monsterliebe a reflection of the self (that of the woman, of the animal, or that of the viewer)? In an almost classical manner, the torsos in Arabeske, Without, and Intuition refer to the absent and evoke the vitality of what is present and what is not. Unlike the light, small works, the large-format paintings get their strength from the compact concentration of the essential. The many layers of overpainting let the background show through, unearth traces, reveal parts or conceal them. To fathom the presence of these contemporaries, we not only look searchingly into the depth of the pictures, but the pictures also confront us. Ara struggles forward from a dark background, over green colors up to the bright white lying on top. To us, Clara seems like someone who has never sloughed a skin. One lies translucently over the other, all remaining; the outermost one is the one we can touch. In Zwitschermaschine we meet a counterpart, perhaps. The Polarbär knows that he is watched; in his turbulent fleetingness, he pauses for one moment and looks at us. Anija Seedler investigates such tales of moments, she enshrouds and fabricates in her works – in the small and clear forms as much as in the large and dense. And the investigation of such moments applies not only to the artistic process of creation, but also to that of viewing.
Translation Monica Sheets
If you are interested in this artwork, please send an email to info@anija-seedler.de